Susanne Lohs

Im Wirtshus kummand d’Lüt zämm

Dezember 2015

Ich bin ein Wirtshauskind. Aufgewachsen in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren durfte ich viele Stunden meines Lebens im Gasthaus verbringen – meist mit meinem Vater, und von „dürfen“ konnte in Wirklichkeit keine Rede sein, vielmehr war es damals ein „Müssen“ für mich. Während meiner Kindheit gab es noch keine Handys zum Spielen, und wenn Erwachsene sich miteinander unterhielten, hatte man als Kind den Mund zu halten. War ich brav, gab’s ein Eis – leider nicht von Eskimo, denn das von meinem Vater am häufigsten frequentierte Gasthaus führte nur Schöller-Eis.

Feierabendbier, Stammtisch, Frühschoppen, Kartenspielen und Sparverein stehen für mich seit jeher für den Begriff „Gasthaus“. Noch heute kommt am zweiten Weihnachtsfeiertag alljährlich meine gesamte Familie beim Wirt des Vertrauens zusammen. Taufe, Erstkommunion und Firmung feiert man im Stammgasthaus, die Tafel nach dem Ehegelübde geht ebenfalls im Wirtshaus über die Bühne.

Bei der Recherche für unser Buch stellten mein Mann und ich schnell fest, dass es um den Fortbestand unserer Gasthäuser wohl nicht so gut bestellt ist – in etlichen Vorarlberger Gemeinden gibt es nicht mal mehr eins. Während der neun Monate, in denen wir Gasthaus für Gasthaus, Wirt für Wirt besucht haben, hat sich dieser Eindruck bestätigt: Zu viele Verordnungen, Gesetze und Auflagen machen den Gastwirten das Leben schwer. Leider.

Laut, verraucht und als eine Art eigener Mikrokosmos – so habe ich als Kind die Wirtsstuben wahrgenommen. Aber eines habe ich schon damals verstanden: Im Gasthaus wird Geschichte geschrieben und Politik gemacht. Geschäfte werden abgewickelt. Vereinssitzungen, Seniorentreffen und Tanzkränzchen finden statt. Ein Gasthaus ist Gerüchteküche und Umschlagplatz für Informationen aller Art, kurzum: Es ist Dreh- und Angelpunkt einer Gemeinde. Ein Ort ohne Gasthaus ist wie ein Mensch ohne Seele.

Daran hat sich bis heute – 30, 35 Jahre später – nichts geändert. Wirt und Gast sind miteinander verbunden, leben eine Art Symbiose: Der Wirt braucht seine regelmäßig wiederkehrenden Gäste, um sein Auslangen zu finden. Die Gäste brauchen ihr Wirtshaus als Informationszentrale und Treffpunkt. Hier werden soziale Bedürfnisse gestillt – nach geselligem Beisammensein, nach Austausch mit anderen. Im Gasthaus ist man nicht alleine, sondern integraler Bestandteil einer ganz eigenen Spezies. Die Besucher eines typischen Wirtshauses könnten unterschiedlicher nicht sein – alle Gesellschaftsschichten sind willkommen, vom Bauarbeiter bis zum Anwalt. Und doch haben sie alle eines gemeinsam: Jeder Einzelne ist Gast. Für seine Gäste nimmt ein Wirt so manches in Kauf, überwindet bürokratische Hürden, befolgt Gesetze, erfüllt geforderte Auflagen – und seien sie noch so absurd. Da kam einiges zusammen in den letzten Jahren: Arbeitszeitgesetz und Aufzeichnungspflicht, die Allergenverordnung und nun die bevorstehende Registrierkassenpflicht, um nur einen Auszug zu nennen. Und natürlich der Nichtraucherschutz: Was haben Gastronomen nicht alles investiert, um Raucher- und Nichtraucherbereiche zu trennen – nur damit nun doch alles anders wird und generell nicht mehr geraucht werden darf? Welch Verhöhnung der Wirte und Bevormundung der Gäste! Wen wundert es da, dass viele Gastwirte das Gewerbe an den Nagel hängen (müssen) oder sich kein Nachfolger, Käufer oder Pächter findet, der all diese Bürden auf sich nehmen will? Die finanzielle Belastung ist oftmals zu hoch, das wirtschaftliche Risiko zu groß, die Zukunft zu ungewiss. Und so nimmt das Wirtshaussterben seinen Lauf.

Umso erstaunter waren wir während unserer Tour durch Vorarlbergs Wirtshäuser, wie viele Gastwirte dennoch mit vollstem Engagement und Herzblut Tag für Tag ans Werk gehen – mit dem Bewusstsein für ehrliches, authentisches Kochen, fürs Selbermachen, mit der nötigen Wertschätzung gegenüber den Grundprodukten, um bodenständige, gutbürgerliche Gerichte in Top-Qualität abzuliefern. Wochentags gibt’s für jedermann leistbare Mittagsmenüs, die richtig satt machen. Zahlreiche Gasthäuser haben wieder den traditionellen (Sonntags-)Braten auf der Speisekarte. Viele Kleinfamilien, Singles oder Pensionisten scheuen den Aufwand eines Schweins-, Hack- oder Rinderbratens – umso besser, wenn’s den dann im Gasthaus gibt. Die Vorliebe für saisonale und regionale Produkte bringen die Wirte in ihren mannigfaltigen Spezialitätenwochen zum Ausdruck: Der Schwerpunkt liegt dann bei Spargel, Bärlauch, Pilzen, Wild, Gans, Schlachtpartie, Fisch und anderen Lebensmitteln. Innereien wurden lange Zeit als minder angesehen und erfahren in letzter Zeit eine neue – oder eher: eine erneute – Aufwertung. Auch die Philosophie „from nose to tail“, also ein Tier von Kopf bis Schwanz zu verwerten (anstatt nur die Filetstückchen zu verwenden), wird bei vielen Gastwirten bereits tatsächlich gelebt.

Klingt paradiesisch? Ist es auch. Grundsätzlich. Von meinem kindlichen Unmut, ins Wirtshaus gehen zu „müssen“, ist nichts geblieben. Mein Blick auf Gasthäuser hat sich geändert, relativiert, geschärft. Ich habe viel Neues gelernt, Einblicke in verschiedene Sichtweisen bekommen und (kultur)geschichtlich Interessantes erfahren. Am bereicherndsten war jedoch, so viele liebe, charakterlich herausragende Menschen – die Wirte – kennenlernen zu dürfen. Ein Gasthaus ist und bleibt, was es immer schon war: ein Ort der Begegnung. Ich bin gerne ein Wirtshauskind.

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